Das Gewohnheitsrecht ist ungeschriebenes Recht, das nicht durch die zuständigen Gesetzgebungsorgane erlassen wurde, sondern durch fortwährende Anwendung und längere Tradition zustande kommt und an die sich die Beteiligten rechtlich gebunden fühlen.
Gewohnheitsrecht hat also nichts mit dem gerne in Diskussionen unter Freunden vorgetragenen ultimativen Argument zu tun, dass ein lange praktiziertes Verhalten allein dadurch gerechtfertigt sei, dass man es schon so lange mache, so dass es mittlerweile Gewohnheitsrecht sei - so wie etwa das vermeintliche Recht auf die seit Jahren über ein fremdes Grundstück eingeschlagene Abkürzung auf dem Weg zum Bus oder ein bestimmtes Verhalten im Büro.
Bloße Übung macht noch lange kein Gewohnheitsrecht
Allein aus der Ausübung einer bestimmten Handlung erwächst noch kein Gewohnheitsrecht. Dabei spielt es keine Rolle, dass man etwas schon seit Jahrzehnten macht und der Vater und Opa es auch schon ihr ganzes Leben lang so gemacht haben. Insbesondere aus im Verborgenen ausgeführten Handlungen am gesetzten Recht vorbei erwächst kein Gewohnheitsrecht. Wer heimlich ein Gebäude auf seinem Grundstück errichtet, ohne dass dafür eine Baugenehmigung vorliegt, kann sich, wenn der Bau nach vielen Jahren vom Bauamt entdeckt und der Abriss angeordnet wird, nicht darauf berufen, dass mittlerweile der Bau so lange stehe, dass der Erbauer einen gewohnheitsrechtlichen Anspruch auf Stehenlassen des Gebäudes habe. Denn Gewohnheitsrecht ergibt sich nicht allein aus einer bloßen Gewohnheit.
Überzeugung der Beteiligten von rechtlicher Bindungswirkung
Es ist eine fundamentale Voraussetzung für die Entstehung von Gewohnheitsrecht, dass neben der langjährigen tatsächlichen Übung eines bestimmten Verhaltens die Beteiligten der Überzeugung sind, dass die in Frage stehende Übung rechtlich bindend ist.
Keine Strafbarkeit aufgrund Gewohnheitsrechts
Die Rechtsordnung kann allerdings bestimmen, welche Art der Rechtsnormen für eine verbindliche Regelung in einem bestimmten Bereich erforderlich ist. So ist im Strafrecht stets ein formelles, bestimmtes Gesetz erforderlich, um die Strafbarkeit einer Handlung zu begründen. Aus Gewohnheitsrecht kann sich keine Strafbarkeit einer Handlung ergeben. Gewohnheitsrecht findet sich in Deutschland deshalb nur im Zivilrecht und im öffentlichen Recht.
Gewohnheitsrecht im Völkerrecht
Eine wichtige Stellung nimmt das Gewohnheitsrecht im Völkerrecht ein. Viele völkerrechtliche Regeln sind nicht kodifiziert, sondern haben sich aufgrund jahrelanger Übung zwischen den Staaten zu einem Völkergewohnheitsrecht herausgebildet.
Beispiele für Gewohnheitsrecht in Deutschland
Im innerstaatlichen deutschen Recht spielt das Gewohnheitsrecht eher eine untergeordnete Rolle, da die deutsche Rechtsordnung traditionell das geschriebene Recht pflegt.
Allerdings hat sich das Gewohnheitsrecht im Handelsrecht in Form des Verweises auf unter Kaufleuten geltende Handelsbräuche eine vergleichsweise wichtige Position erkämpft. So regelt etwa § 346 HGB (Handelsgesetzbuch), dass „unter Kaufleuten […] auf die im Handelsverkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuche Rücksicht zu nehmen“ ist.
Im Arbeitsrecht ist es die gewohnheitsrechtlich anerkannte „betriebliche Übung“, die Arbeitsverhältnisse entscheidend prägen und Rechtsansprüche der Arbeitnehmer begründen kann.
§ 346 Handelsgesetzbuch
Unter Kaufleuten ist in Ansehung der Bedeutung und Wirkung von Handlungen und Unterlassungen auf die im Handelsverkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuche Rücksicht zu nehmen.
Inwiekenrecht im Fehngebiet ist geltendes Gewohnheitsrecht
Ein Beispiel für Gewohnheitsrecht ist das Inwiekenrecht im Fehngebiet. Das Oberlandesgericht Oldenburg hat entschieden, dass das sogenannte „Inwiekenrecht“ in Rhauderfehn in Ostfriesland als altes Gewohnheitsrecht weiterhin Gültigkeit hat. Bei dem Inwiekenrecht handelt es sich um das Recht auf Benutzung eines Randstreifens der Anliegergrundstücke einer Inwieke (Nebenkanal) auf dem Landweg von der Hauptwieke (Hauptkanal) aus (vgl. Oberlandesgericht Oldenburg, Urteil vom 11.02.2008, Az. 15 U 55/07).