Das Oberlandesgericht Hamm hatte kürzlich einen Fall zu entscheiden, in welchem ein an einer Behinderung leidender Abkömmling nach dem Tod seines Vaters auf seine Pflichtteilsansprüche verzichtete und damit den Zugriff der Sozialämter auf den Pflichtteil verhinderte. Nach Ansicht des Gerichts war dieser nachträgliche Pflichtteilsverzicht wirksam, obwohl hierdurch am Ende die Allgemeinheit belastet werde.
Sohn mit Behinderung durch Testament enterbt
Die Familie, um die es bei der Entscheidung (OLG Hamm 09.11.2021 – 10 U 19/21) ging, hatte zwei Kinder - ein gesundes und ein Kind, welches aufgrund eines zerebralen Geburtsschadens an einer Behinderung litt. Durch gemeinschaftliches Testament setzten die beiden Eltern sich gegenseitig zu alleinigen Erben und die gemeinsame gesunde Tochter als alleinige Schlusserbin ein. Der unter der Behinderung leidende Sohn wurde damit für beide Erbfälle enterbt. Eine Regelung hinsichtlich des Pflichtteils wurde zunächst nicht getroffen.
Nachdem der Vater gestorben war, konnte die alleinerbende Witwe ihren Sohn nicht mehr versorgen. Er zog daraufhin in eine Einrichtung, es wurde Betreuung bewilligt und er bekam staatliche Sozialleistungen, nämlich rund 1.400 Euro monatlich.
Ein Jahr später verzichtete der Sohn, der trotz seiner Behinderung geschäftsfähig war, durch notariellen Vertrag mit seiner Mutter auf seinen Pflichtteil nach dem Vater.
Erbrechtliche Vorkehrungen bei Familienmitgliedern mit Behinderung
Was auf den ersten Blick herzlos erscheint, ist aus erbrechtlicher Sicht sowohl für den Erhalt des Familienvermögens als auch für das betroffene Kind äußerst sinnvoll. Der Hintergrund, warum in der Regel behinderte Familienangehörige, welche Sozialleistungen vom Staat beziehen, durch ein sogenanntes „Behindertentestament“ von der Erbfolge ausgeschlossen werden und oft auch vom Pflichtteil, ist der Folgende: Das Sozialrecht unterliegt dem sogenannten Nachranggrundsatz. Sozialleistungen erhalten deshalb nur diejenigen, die die betreffenden Aufwendungen nicht mit eigenen Einkünften oder eigenem Vermögen aufbringen können. Sofern ein Sozialleistungsempfänger durch eine Erbschaft oder einen Pflichtteil zu Vermögen kommt, hat dies in der Regel zur Folge, dass die Sozialleistungen eingestellt werden. Der Vermögenszuwachs dient daher in erster Linie dann nur dem Staat, nicht aber dem gehandicapten Familienmitglied. Durch ein „Behindertentestament“ wird daher in der Regel versucht, das behinderte Kind bestmöglich zu versorgen, ohne den Staat am Nachlass teilhaben zu lassen.
Sobald bei einem Sozialhilfeempfänger Pflichtteilsansprüche entstehen, weil zum Beispiel ein Elternteil verstirbt und dieser das betreffende Kind enterbt hat, können die Sozialämter diesen Pflichtteilsanspruch zudem auf sich überleiten und selbst vom Erben einfordern, um einen Ersatz für die bereits geleisteten Zahlungen zu erhalten.
Keine Sittenwidrigkeit bei Pflichtteilsverzicht eines behinderten Sozialleistungsbeziehers
So geschah es auch im vom Oberlandesgericht Hamm zu entscheidenden Fall. Das Sozialamt leitete den vermeintlichen Pflichtteilsanspruch gegen die Mutter des Sozialleistungsempfängers trotz des Verzichtsvertrages auf sich über und machte diesen gerichtlich gegen die Mutter geltend. Das Sozialamt war der Ansicht, der Verzicht auf den Pflichtteil sei sittenwidrig.
Das Oberlandesgericht schob dieser Vorgehensweise der Sozialämter aber einen Riegel vor. Es wies die Klage des Sozialamts mit der Begründung ab, dass Mutter und Sohn wirksam einen nachträglichen Verzicht auf den Pflichtteil nach dem verstorbene Vater vereinbart hätten. Der Pflichtteilsverzichtsvertrag, welcher formal juristisch einen Erlassvertrag darstellt, sei nicht sittenwidrig, auch wenn dieser am Ende die Allgemeinheit belaste.
Allgemeinheit soll wirtschaftliche Lasten von betroffenen Familien mittragen
Das Oberlandesgericht schließt sich damit der geltenden Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) an und entwickelt diese fort. Dieser hatte in einem wegweisenden Urteil aus dem Jahr 2011 (BGH 19.01.2011 – IV ZR 7/10) bereits entschieden, dass Pflichtteilsverzichtsverträge durch geschäftsfähige, aber an einer Behinderung leidende Familienangehörige vor Entstehen des Pflichtteilsanspruchs grundsätzlich wirksam und nicht sittenwidrig seien. Der Bundesgerichtshof begründete seine Entscheidung damals in erster Linie mit dem Prinzip des Familienlastenausgleichs. Demnach soll der Nachranggrundsatz im Sozialrecht gegenüber Familien mit an einer Behinderung leidenden Kindern nur sehr einschränkt zum Tragen kommen. Es sei richtig, dass die wirtschaftlichen Lasten, die für die Versorgung, Erziehung und Betreuung von Kindern mit Behinderung anfallen und besonders hoch seien, zu einem gewissen Teil endgültig von der Allgemeinheit zu tragen sind. Der Verzicht auf den Pflichtteil sei zudem Ausdruck der grundrechtlich geschützten negativen Erbfreiheit und deshalb zu akzeptieren.
Der BGH entschied dies damals aber nur für den Fall, dass der Pflichtteilsverzicht bereits vor dem Erbfall vereinbart wurde. Bislang war in der Rechtsprechung nicht geklärt, ob ein solcher nach dem Erbfall vereinbarte Verzicht auch wirksam ist, was das Oberlandesgericht aber nun in seiner Entscheidung bestätigte.
Im Zweifel schnelles Handeln erforderlich
Familien mit Kindern, die wegen einer Behinderung Sozialleistungen beziehen, müssen aber trotz dieser für sie erfreulichen Entscheidung darauf achten, dass sie nicht zu spät handeln, um den Zugriff der Sozialämter zu verhindern. Sobald der Pflichtteilsanspruch entstanden ist, also zum Beispiel mit dem Tod eines Elternteils, haben die Sozialämter die Möglichkeit, den Pflichtteilsanspruch auf sich überzuleiten. Sobald der Anspruch übergeleitet ist, wird kein wirksamer Verzichtsvertrag mehr möglich sein. Der sicherste Weg ist daher, den Verzicht schon mit Errichtung des Testaments, also vor dem Erbfall zu vereinbaren.
Die Entscheidung des Oberlandesgerichts hat zudem nur Auswirkungen auf die Fälle, in denen Familienangehörige zwar wegen einer Behinderung Sozialleistungen beziehen, trotzdem aber voll geschäftsfähig sind. Sofern die Geschäftsfähigkeit nicht gegeben ist, ergeben sich für einen solchen Pflichtteilsverzicht weitere Hürden, welche oft nicht zu umgehen sind.