Richter stellt moralische Ordnung wieder her
Schon zu Beginn der Urteilsbegründung stellte der vorsitzende Richter klar, dass die moralische Ordnung jetzt wiederhergestellt ist. Grapschen, das gehört sich halt einfach nicht. Auch dann nicht, wenn es sich um den ungelenken Versuch einer amourösen Anbahnung handelt. „Nein heißt Nein“, selbst dann, wenn das „Opfer“ nicht „Nein“ sagt. Alles klar?!
Was in dem Büro des Musikprofessors vor sieben Jahren wirklich passiert ist, wissen zwar ohnehin nur er und sein „Opfer“. Das Gericht war dennoch davon überzeugt, dass im Frühjahr 2009 der ehemalige Rektor der Münchner Musikhochschule während eines Gespräches über die Vergabe von Fördermitteln jedenfalls versucht haben soll, einer Kollegin näher zu kommen und ihr unter ihren Rock zu fassen. Ihren eigenen Angaben zur Folge drehte sich die Kollegin aber weg, weshalb der Versuch ihr unter den Rock zu fassen wohl scheiterte. Sie musste nicht schreien, sie musste sich nicht wehren und „Nein“ hatte sie auch nicht gesagt, auch nicht bei dem kurze Zeit zuvor vorausgegangenen Zungenkuss. Das Gespräch mit dem Angeklagten aber führte sie (ebenfalls eigenen Angaben zur Folge) „in angenehmer Atmosphäre“ zu Ende, verabschiedete sich freundlich und ging.
Im Zweifel gegen den „Grapscher
“Der Angeklagte hingegen bestreitet den Vorwurf. Dennoch verurteilte das Amtsgericht München Siegfried M., am letzten Freitag hierfür zu einem Jahr und drei Monaten Haft auf Bewährung.
Der scheinbar eherne Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“ ist in Deutschland ohnehin nichts mehr als eine hohle Floskel. Bei der Bewertung der Aussage eines potenziellen Opfers sexueller Gewalt kommt es nämlich nicht auf eine objektive Betrachtung an, es kommt auch nicht auf die Meinung des gesunden Menschenverstandes an, nicht einmal auf die Sichtweise eines Sachverständigen. Entscheidend ist allein die Überzeugung des zuständigen Richters. Und spätestens seit den ständigen Debatten über den angeblich dringlichsten Reformbedarf des Sexualstrafrechts gilt vor deutschen Gerichten: Im Zweifel glaubt man besser dem angeblichen Opfer.
Um im Prozess gegen Siegfried M. der richterlichen Überzeugungsbildung etwas nachzuhelfen, hatte die Staatsanwaltschaft auch sicherheitshalber zahlreiche Stimmungszeugen geladen, die davon berichten konnten, was für ein moralisch anstößiger Mensch der Angeklagte doch sei. Eine ehemalige Doktorandin konnte etwa beschwören, der Angeklagte habe einmal vor ein paar Jahren im Kino versucht, über ihre Hand zu streicheln. Und wer so etwas tut, der ist auch in anderen Fällen ein ruchloser Grabscher. Zwar habe er dann die Hand von selber zurückgezogen, aber was sollen diese Details?
Ein Therapeut, welchem sich ein weiteres angebliches Opfer kurz nach der angeblichen Tat anvertraut hatte, attestierte dieser Zeugin – seiner sehr guten Freundin - umfassende Glaubwürdigkeit in allen Punkten. Das sei keinesfalls gespielt gewesen. Was sie ihm aber genau geschildert hatte, da konnte er sich nicht mehr so gut daran erinnern, ist doch auch nebensächlich.
Was diese Zeugen am Ende genau dazu beitragen konnten, den Angeklagten schuldig zu sprechen? Juristisch gesehen natürlich nichts, sie haben ja mit der verurteilten Tat formal auch nichts zu tun gehabt. Zeugen gab es ohnehin keine, es war eine Situation Aussage gegen Aussage.
Aus Sicht der seit der Silvesternacht neu entstandenen „Grapscher-Polizei“ waren das natürlich allesamt tragende Indizien der Schuld des Angeklagten. Ob das, was die Professorin geschildert hatte, auch wirklich so passiert ist, weiß zwar nur der liebe Gott, dennoch war es dem Richter nach dem deutschen Strafrecht erlaubt, ohne neutrale Zeugen oder Sachbeweise von der Richtigkeit der Angaben der Professorin auszugehen.
Falschbeschuldigungen gibt es nicht
Das Urteil gegen den renommierten Musikprofessor zeigt wieder einmal deutlich, wie sehr mittlerweile auch Gerichte sich von der undifferenziert geführten „Sexismusdebatte“ rundum die Verschärfung des Sexualstrafrechts leiten lassen und schon fast in einem vorauseilendem Gehorsam dem Schrei nach rigoroser Bestrafung der scheinbar omnipräsenten „Sextäter“ zuvorkommen.
Dabei ist in den meisten Prozessen, in denen es um sexuelle Vorwürfe geht, objektiv betrachtet noch nicht einmal klar, was genau vorgefallen ist. So auch hier. Außer dem vermeintlichen Opfer und dem vermeintlichen Täter war niemand anwesend, objektive Beweise gibt es keine – wie auch, nach mehr als sieben Jahren. Es steht also Aussage gegen Aussage. Dass das vermeintliche Opfer selbst Partei und damit kein neutraler Zeuge ist, macht die Sachlage nicht einfacher, zumal gerade im Bereich der Sexualdelikte nicht ganz selten auch falsche Beschuldigungen erhoben werden.
Aber halt! Haben wir nicht in den letzten Wochen überall die immer wieder repetierte „wissenschaftliche Studie“ gelesen, dass es bei Sexualdelikten nur 3 % Falschbeschuldigungen gibt? Der Hintergrund hierzu: Im Rahmen besagter Studie wurden 100 Fälle der Anzeige sexueller Nötigung beobachtet, und in drei dieser Fälle kam am Ende ein Urteil wegen falscher Verdächtigung heraus. Sehr repräsentativ muss man angesichts dieser hohen Zahl an ausgewerteten Fällen attestieren! Folgt man dann auch noch einer anderen Studie, die besagt, dass nur 8 % aller angezeigten Vergewaltigungen verurteilt werden, fragt man sich vielleicht, was genau dann die anderen 89 % darstellen, wenn sie laut Statistik weder wahr noch falsch sind?
Polizeiliche Sachbearbeiter von Sexualdelikten gehen im Rahmen der Polizeistudie „Vergewaltigung und sexuelle Nötigung in Bayern“ davon aus, dass fast zwei Drittel der von ihnen bearbeiteten Vergewaltigungsanzeigen „eher“ oder „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ Vortäuschungen oder falsche Verdächtigungen sind.
Es wäre auch verwunderlich, wenn eine Anschuldigung, die so leicht zu erheben ist und so trefflich Wirkung zeigt, nicht mitunter auch fälschlich erhoben wird. Aber während Falschbeschuldigungen in anderen Bereichen („Ich habe das Geld nicht genommen, sondern mein Mitbewohner“ oder „Das sind nicht meine Drogen, sondern die meines Freundes“) sich mitunter recht einfach durch gegenteilige Sachbeweise (Fund des Geldes, Drogentest )nachweisen lassen, bleibt es eben auch bei einem fälschlich angezeigten Sexualdelikt regelmäßig bei der Situation Aussage gegen Aussage – mit anderen Worten, der Beschuldigte kann weder seine Unschuld beweisen noch gar nachweisen, dass er fälschlich angezeigt wurde.
Nun gut, es steht Aussage gegen Aussage, man kann im Ergebnis dann gar nichts beweisen – also ist der Angeklagte im Zweifel freizusprechen? Keinesfalls. Anders als in dem vielfach als unrechtsstaatlich bezeichneten Amerika gehen deutsche Gerichte selten von einer Pattsituation aus, auch wenn es schlicht kaum nachweisbar sein wird, wer die Wahrheit und wer die Unwahrheit sagt. Vor deutschen Gerichten gilt die „Freiheit der Beweiswürdigung“, und die erlaubt einem Richter eine Verurteilung allein auf der Aussage des einzigen Belastungszeugen, ohne sonstige Belastungsbeweise. „Im Zweifel für den Angeklagten“ ist so auszulegen, dass das Urteil in sich nicht unlogisch sein darf und im Urteil keine Zweifel mehr erkennbar sein dürfen. Ein Problem, was sich mit der Formel „Das Urteil beruht auf den vollumfassend glaubwürdigen Angaben der Geschädigten“ sehr einfach aus der Welt schaffen lässt, wenn das Gericht nur verurteilen will.
Und obwohl Richter in Fällen, in denen Aussage gegen Aussage steht, gehalten wären, wenigstens ein paar wenige aussagepsychologische Grundprinzipien zu beachten, muss man konstatieren, dass auch das in der Rechtswirklichkeit eher selten vorkommt. Woher auch? Die Aussagepsychologie stellt eine eigene Fachdisziplin der forensischen Psychologie dar, füllt Bände an Büchern und darf durchaus als eine hoch komplexe Materie bezeichnet werden. Eine Materie, die Psychologen jahrelang studieren, Juristen hingegen nicht ein einziges Mal in ihrer Ausbildung hören.
Irgendetwas wird schon dran sein
Im Fall des Siegfried M. hätte die Entstehungsgeschichte der Aussage der angeblich geschädigten Professorin im Hinblick auf mögliche Falschbelastungsmotive hellhörig werden lassen müssen. Nach den von ihr geschilderten Übergriffen führte die angeblich sexuell genötigte Professorin ein - wie sie sagt - konstruktives Gespräch in angenehmer Atmosphäre und machte keinerlei Anstalten den unverschlossenen Raum zu verlassen. Die befragte Frauenbeauftragte der Musikhochschule, des Sexismus eher unverdächtig, ging ausweislich ihrer Notizen auch von einem „Missverständnis“ aus und riet dazu, die Sache mit einem netten Gespräch aus der Welt zu schaffen. Was offenbar auch gut funktionierte: im Nachgang der angeblichen Tat folgte die Professorin dankend diversen Einladungen zu Veranstaltungen von Siegfried M. und half ihm sogar dabei ein CD-Booklet zu redigieren. Erst ganze sechs Jahre später zeigte die Professorin Siegfried M. bei der Polizei an. Nicht uninteressant in diesem Zusammenhang dürfte dabei sein, dass ausgerechnet Siegfried M. in seiner Funktion als Hochschulrektor zuvor ihrem Arbeitsbereich Gelder und Mittel gestrichen sowie Einsparungen vorgenommen hatte und es bei der Wahl zum neuen Präsidenten der Hochschule zu einem Machtkampf zwischen der Professorin und Siegfried M. gekommen war. Sie sagte als Zeugin sogar wörtlich im Prozess aus, dass sie die Geschichte von dem angeblichen Übergriff mehreren Kollegen erzählt habe, um sich ein „Netzwerk“ gegen Siegfried M. aufzubauen. Zuvor hatte sie selbst der eigenen Anwältin nur so viel offenbart, dass die erfahrene Juristin von einer straflosen sexuellen Belästigung ausging und von einer Anzeige abriet. Dass also der Übergriff den die Professorin da erzählte auch grundsätzlich motivational frei erfunden sein konnte, um Siegfried M. loszuwerden, wäre zumindest nicht so ganz einfach von der Hand zu weisen.
Ungeachtet dessen führte das Gericht in seiner Urteilsbegründung aus, dass es im Ergebnis aber davon überzeugt war, dass es sich so zugetragen hatte, wie die Zeugin gesagt hat. Nur wie genau hat sie es denn gesagt? Dass die Einlassungen der Professorin zum eigentlichen Kerngeschehen der Tat detailarm, wenig elaboriert und mit wenig Interaktionsschilderungen blieben, ist eines der wesentlichen Punkte bei denen Aussagepsychologen eine Geschichte als generell wenig glaubwürdig beurteilen. Ein lügender Zeuge hat nämlich eine Reihe von Aufgaben zu bewältigen: Er muss eine Falschdarstellung plausibel konstruieren, diese ggf. spontan ergänzen, sich die selbst produzierte Information merken, keine Information erwähnen, die den Zuhörer skeptisch werden lassen könnte und die eigene Wirkung sowie die Wirkung der Aussage auf den Rezipienten kontrollieren. Daher fällt die eigentliche Handlungsschilderung eines lügenden Zeugen meist inhaltlich relativ wenig elaboriert aus, da für eine komplexe Darstellung nicht mehr ausreichend kognitive Ressourcen zur Verfügung stehen. In erlebnisbegründeten Schilderungen ist dagegen eher ein hohes Ausmaß an Detaillierung und individueller Durchzeichnung festzustellen, wie etwa die Schilderung von Begleitgefühlen zu dem Erlebnis oder ausgefallenen Details, dem Erwähnen von Nebensächlichkeiten oder von Komplikationen.
Den angeblichen Griff unter den Rock schilderte die Zeugin trotz umfangreicher polizeilicher Vorbefragung bei ihrer gerichtlichen Vernehmung zum ersten Mal und das auch erst auf Nachfrage. Und obwohl die Professorin nach eigenen Angaben mehrfach mit zahlreichen Leuten über die angebliche Tat gesprochen hatte, darunter Kollegen, Freunde, Psychologen, Anwälte und Polizisten, wird eine hierdurch suggestiv – bzw. autosuggestiv beeinflusste Aussageentstehung gleichwohl unberücksichtigt gelassen. Selbst dann noch, als die Zeugin offen zugibt, auch mit einer anderen Zeugin des Prozesses mehrfach in Kontakt gewesen zu sein und sich damit nachträgliche Informationen verschafft und durch unterschiedliche Informationsquellen abgesprochen zu haben – mögliche Konfundierung, das Erzeugen von Konformitätsdruck und eine systematische Konditionierung nicht ausgeschlossen.
Es nützt alles nichts. Das Gericht hatte keine Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Professorin. Auch nicht trotz des stark gegen den Wahrheitsgehalt sprechenden Aussagemotivs und der schlechten Aussagequalität der parteiischen – weil sich selbst betreffenden Zeugin. Warum das Gericht ihr und nicht dem Angeklagten glaubte, weiß wohl auch nur der liebe Gott.
So etwas gehört sich nicht, also ist es auch strafbar?
Aber selbst wenn es diesen kurzen versuchten Griff unter den Rock vor mehr als 7 Jahren gegeben hätte – was sich nie nachweisen, aber eben auch nie widerlegen lassen wird -, wäre dieser Griff dann auch automatisch strafbar? Und wenn er das wäre, ist eine Mindeststrafe von mehr als einem Jahr und eine Höchststrafe von bis zu 15 Jahren sachgerecht?
Um von einer sexuellen Nötigung (bzw. Vergewaltigung) zu sprechen, die mit Freiheitsstrafe von einem bis fünfzehn Jahren bedroht ist, muss der Täter (verkürzt gesagt) eine sexuelle Handlung gegen den Willen des Opfers vornehmen und sich dabei aber auch bewusst sein, dass dies gerade gegen den Willen des Opfers geschieht.
Um bei dieser Gelegenheit mit einer weiteren Unwahrheit aufzuräumen: Es ist nicht so, dass sich das Opfer wehren muss, damit der Täter wegen Vergewaltigung bestraft werden kann. Auch gilt nach jetzigem Recht schon längst, dass ein Nein auch Nein heißt und ein Hinwegsetzen über dieses erklärte Nein ebenso strafbar ist. Bevor man aber jemanden bis zu 15 Jahre ins Gefängnis sperrt, verlangt das Recht immerhin so viel, dass sich der Täter wenigstens bewusst sein muss, durch sein Handeln das Recht der sexuellen Selbstbestimmung einer anderen Person zu verletzen – daher das hohe Strafmaß. Simpel gesagt: Das in der nächtlichen Tiefgarage von einem maskierten Fremden an die Wand gedrängte Opfer muss sich nicht wehren, alles was dieser Täter tut ist ganz bestimmt strafbar, auch nach jetziger Rechtslage! Und selbst wer nach einem hitzigen Flirt auf einen „Kaffee“ mit in die Wohnung des „Täters“ kommt, muss nur „Nein“ sagen, wenn er keinen Sex haben möchte. Setzt sich der Täter über diesen klar geäußerten Willen hinweg, macht er sich strafbar. So die aktuelle, in diesem Punkt eben keineswegs reformbedürftige Gesetzeslage.
Bei dem von der Professorin geschilderten angeblichen „Übergriff“ war – selbst man die Aussage als wahr unterstellt – aber kein einziger der Bestandteile des gesetzlichen Tatbestands der sexuellen Nötigung erfüllt.
Dem vom Gericht abgeurteilten „Übergriff“ ging ein vom Gericht immerhin als straflos attestierter Zungenkuss voraus. Nach eigener Schilderung hatte sich die Professorin nach diesem Kuss in das Büro des Professors gesetzt und weiter über Hochschulangelegenheiten in konstruktiver Atmosphäre gesprochen. Einige Zeit später sei der Rektor völlig überraschend aufgesprungen und habe sich ihr angenähert: „Ich dachte mir, oje jetzt will er mich auch noch ausziehen. Ich wehrte mich mit WEGDREHEN – geschrien, geschlagen oder aufgestanden bin ich nicht“. Selbst nach Schilderung der Professorin war es - nachdem sie sich dann bloß weggedreht hatte - gar nicht erst zum Berühren unter dem Rock gekommen, er habe es nur kurz versucht. Sie ist nach eigenen Angaben danach weiterhin sitzengeblieben und hat sich weiter mit Siegfried M. über Fördermittel unterhalten. „Es war so schwierig bei ihm ein Gehör zu bekommen, deshalb dachte ich mir, sage ich besser mal nichts.“
Über Moral lässt sich streiten. Wenn sich aber jemand zur Begrüßung eines privaten Treffens einen Zungenkuss geben lässt ohne sich zu wehren, sich wegzudrehen oder Nein zu sagen und im Nachgang – wie im vorliegenden Fall behauptet – im Zimmer bleibt, um sich weiter zu „unterhalten“ – dann dürfte jedenfalls fraglich sein, inwieweit man(n) noch davon ausgehen konnte, dass ein weiteres amouröses Anfassen partout nicht erwünscht gewesen war. Der Täter einer sexuellen Nötigung muss aber wissen oder es zumindest für möglich halten, dass er gegen den Willen des Opfers handelt und gerade zur Überwindung des geleisteten oder erwarteten Widerstands etwa Gewalt einsetzen. Kann man dies nach alledem wirklich behaupten? Handelt man(n) vorsätzlich gegen den Willen der anderen Person, wenn man vorher ohne auf ein Nein oder Widerstand zu stoßen einen Zungenkuss hatte, um im Nachgang zu versuchen unter den Rock zu fassen und nachdem bloßen Wegdrehen der Angebeteten sofort aufzuhören? Oder wie es der vorsitzende Richter des 2. Strafsenats am Bundesgerichtshof, Thomas Fischer, erst jüngst formuliert hat: Wie oft in Ihrem Leben haben Sie eine andere Person a) angefasst, b) geküsst, c) zu sexuellen Handlungen aufgefordert, obwohl Sie sich nicht sicher waren, ob sie wollte? Wie oft haben Sie „ambivalente“ Situationen erlebt?
Ob das von der Professorin beschriebene Umarmen darüber hinaus „Gewalt“ im Sinne des Gesetzes darstellt, darf ebenfalls bezweifelt werden. Gewalt definiert sich als eine nicht ganz unerhebliche körperliche Kraftentfaltung des Täters, die die sexuelle Handlung erzwingt. Das ist aber restriktiv auszulegen, immerhin kann die Folge von einer vorschnellen Bejahung von Gewalt 15 Jahre Gefängnis bedeuten. Deswegen bejaht die Rechtsprechung Gewalt etwa erst, wenn der Täter Faustschläge versetzt, das Opfer zu Boden wirft, es fesselt, die Hände festhält, den Mund zuhält oder an den Hals greift. Ferner wenn es auf das Bett gestoßen oder niedergedrückt wird oder aber bei jeder körperlichen Reaktion auf einen lediglich erwarteten Widerstand des Opfers, welcher nicht tatsächlich erfolgen muss - soviel also dazu, dass angeblich immer erst Wiederstand geleistet werden müsse. Wenn sich also die Professorin angesichts des sie umarmenden Siegfried M. bedrängt, eingeengt und vielleicht auch hilflos gefühlt haben mag, wäre das nachvollziehbar. Wenn sie den Griff unter ihren Rock durch das bloße Wegdrehen vermeiden konnte, wird man kaum von Gewalt sprechen können. Denn unwiderstehliche, den Willen des Betroffenen völlig ausschaltende Gewalt liegt damit sicherlich nicht vor.
Was aber, wenn der Rektor keine Gewalt angewendet, sondern ihr angedroht hätte, ihr sämtliche Fördermittel zu streichen, wenn sie nicht sofort Sex mit ihm habe, und sie aus Angst vor den Konsequenzen darauf eingegangen wäre? Selbst ein solches Verhalten wäre als „Nötigung auf sexueller Grundlage“ mit sechs Monaten bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe strafbar gewesen. Keine Strafbarkeitslücke also, wenngleich es nicht für die Strafbarkeit wegen des Verbrechens der sexuellen Nötigung ausreicht, dass auf das Opfer ein rein psychisch vermittelter Zwang in Bezug auf ein irgendwie geartetes, nicht sich unmittelbar körperlich auswirkendes Übel in Aussicht gestellt wird.
Sieht man sich darüber hinaus das Strafmaß der sexuellen Nötigung von einem Jahr Mindeststrafe bis zu 15 Jahren Haft an, wird auch deutlich, warum man für das kurze (und etwas anderes wird man Siegfried M., da es ja beim bloßen Versuch geblieben ist, nicht unterstellen können) unter den Rock fassen (juristisch gesehen) erst gar nicht von einer sexuellen Handlung im Sinne dieser Vorschrift sprechen kann: Die Rechtsprechung stellt beider sexuellen Nötigung nämlich wesentlich auf die Dauer der sexuellen Handlung ab, um nicht schon Handlungen mit bis zu 15 Jahren Haft zu bestrafen, die sich als sehr kurze oder bloße – wenn auch grobe – Taktlosigkeiten und Geschmacklosigkeiten darstellen, wie z.B.: Umarmen, Küssen, das Streicheln vom Rücken zum Po, teilweise unter der Kleidung, der kurze Griff an die Genitalien.
„Echte“ Sexualdelikte – also die Verbrechenstatbestände - verjähren in Deutschland nicht so schnell, und das hat durchaus gute Gründe. Vor Augen hatte der Gesetzgeber besonders schutzwürdige Gruppen, bei denen die Regelverjährung von 5 Jahren – zu Recht! - eine unerträgliche Zumutung für das Gerechtigkeitsempfinden darstellt: Opfer von sexuellem Missbrauch in der Kindheit, Opfer von brutalen Vergewaltigern, die erst Jahre später über DNA-Tests ermittelt werden. Natürlich darf in solchen Fällen der Täter nicht straffrei ausgehen.
Aber wie soll ein Beschuldigter bis zu 20 Jahre später den Vorwurf einer schon damals erwachsenen und selbstbewussten Kollegin verteidigen, wenn sie behauptet, „so ein Gefühl gehabt zu haben, als wenn er versuchen wolle mit seiner Hand unter meinen Rock zufassen“? – wenn es zudem dabei vollständig Aussage gegen Aussage steht und es damals wie heute um Karrieren und akademische Fördergelder ging?
„Wäre doch die Vagina nur ein Auto! Auch 2016 ist das Auto eines Menschen besser geschützt als seine sexuelle Selbstbestimmung!“ – so fasste die Spiegel-Online Autorin Margarete Stokowski wenig kenntnisreich ihre eigene Einschätzung der Rechtslage in Deutschland zusammen. Zum Vergleich: Hätte der Professor vor sieben Jahren nachweisbar den Autoschlüssel der Professorin entwendet, hätte dieses Auto mutwillig zu Schrott gefahren, ihr dies nach seiner Rückkehr höhnisch gestanden und dabei eine Schimpftirade jenseits von Böhmermanns Erdogan-Versen rezitiert und ihr zum Abschied noch einen wuchtigen Fausthieb ins Gesicht versetzt, dann wäre dies alles zusammen bis zum Frühjahr 2014 mit einer Höchststrafe von bis zu fünf Jahren bedroht gewesen – und heute wegen der Verjährungsfrist von fünf Jahren bereits seit fast zwei Jahren komplett verjährt. Das gleiche gilt für das obige Beispiel einer „Nötigung auf sexueller Grundlage“.
Und der nur behauptete, kurze und vor allem nicht nachweisbare Griff unter den Rock während eines Gesprächs über Fördermittel vor sieben Jahren soll nun zu einer Mindeststrafe von einem Jahr führen und erst nach 20 Jahren verjähren? Puh. Offensichtlich besteht in Deutschland hinsichtlich des Schutzes von Autos eine empfindliche Schutzlücke.